Jörmungandr - Der Anfang und das Ende

Jeder, der seinen Platz in der Welt finden möchte, muss erst zugeben, dass er keine Ahnung hat, wo er ist.
Mythen & Learnings
Nach der Vorstellung von Fenrir, tauchen wir in diesem Artikel, in das Weltmeer ab und holen die Midgardschlange aus ihrer Versenkung hervor, um zu verstehen, warum wir dem Symbol der Schlange einen Platz direkt neben Fenrir in den Untiefen unseres Bewusstseins-Ozeans eingeräumt haben. Auch in diesem Artikel reloaden wir die "EDDA" und schlagen eine gedankliche Regenbogenbrücke zwischen Mythologie und der Aufgabe, das weiblich-heilige in unserer Welt zu reaktivieren. Die Schlange als Symbol der Weiblichkeit hat in vielen Kulturen eine Transformation vom Lebensspender zum heimtückischen Wesen vollzogen. Metaphysisch betrachtet, steht sie für die verborgenen Kräfte des Unterbewusstseins und symbolisiert gleichzeitig die Vergänglichkeit aller Dinge. Sie ist ein Zeichen für die Polarität.


Das Ursymbol der Schlange ist in vielen Kulturen verankert und hat kontrastierende Bedeutungen. Sie kann als Erneuerung und Leben verstanden werden, auf der anderen Seite prägen Gift und Tod den schlängelnden Mythos. Trotz ihrer zerstörerischen und giftigen Art, bedeutete Jörmundgandr für die Germanen mehr als die bloße Vernichtung. In ihrer Sage liegt mehr verborgen, als das drohende Ende in Ragnarök prophezeit. Die matriarchale Symbolik ist in vielen Kulturen verankert. Die Ewigkeit und das schöpferische Potential über die andauernde Häutung findet aber gerade in der Midgardschlange ihren Höhepunkt und lässt andere Schlüsse zu, als vermutet.
Spoiler Alert: In dir schlummern ungeahnte villain Kräfte, die du für das Gute einsetzen kannst...ganz wie ein waschechter Antiheld‼
In diesem Artikel soll es um den gewaltigen Bruder von Fenrir und Hel gehen. Dieses Mal wird es gigantisch, mystisch, schockierend und auch ein kleines Schaudern wird vermutlich nicht ausbleiben. Die meisten kennen Loki als Gott der Zwietracht, Illusionen und Bosheit. Dieses Bild hat auch Hollywood aufgegriffen und mit den Avengers von Marvel einen sympathischen Antihelden erschaffen, dem man aufgrund seiner Gewitztheit, seiner tollpatschigen Allmachtsphantasien und seiner kühnen Besonnenheit, wenn es um das Wesentliche zu gehen scheint, einfach nicht lang böse sein kann. Dieser doppelzüngige Trickser aus Asgard hat seiner Rolle als Gestaltenwandler und Schlitzohr allerdings nicht nur in den Filmen alle Ehre gemacht, sondern auch die Edda gibt uns in diesem Archetypus zu denken; er schockiert und auch das Schmunzeln bleibt in Anbetracht dieses Feindbildes nicht aus.

In diesem Artikel soll es aber nicht um den Vater gehen, sondern um den Erstgeborenen und die Antihelden DNA. Wie viel Vater steckt im Sohn und wie hilft uns Jörmungandr dabei die weibliche Göttlichkeit erneut anzuerkennen?
Die Sagenwelt
Was bisher geschah...Wie der oberste aller Asgardianer mit der Brut Lokis umgesprungen ist, weißt du bereits aus unserem letzten Artikel "Fenrir - Wolf der Wölfe". Auch dieser zunächst unscheinbare Wurm, löste nach seiner Geburt beinahe unvermittelt schaudern in den Göttern aus. Kapitel 34 von Gylfanning beschreibt diesen Moment:
Er warf die Schlange in das tiefe Meer, das rund um die Länder lag, aber sie wurde so groß, dass sie mitten im Meer lebte und nun alle Länder umgab und sich selbst in den Schwanz biss.
Die Götter irrten auch hier und unterschätzen die irrsinnige Genetik des Loki. Die Schlange wuchs zu solch enormen Ausmaßen an, dass sie ganz Midgard umfasste und sich dabei selbst in den Schwanz biss.

Schlange oder Drachen?
Wieder haben wir es mit einem gigantischen und unberechenbaren Wesen mit Lokis DNA zu tun. Der Etymologie zur Folge, stammt der Name von Jormungandr aus dem Altisländischen und bedeutet so viel, wie "riesige Uhr", wobei "Jormun", als Unermesslichkeit verstanden werden kann und das "Gandr" als "Ungeheuer". Dieser Begriff ist meiner Meinung nach wohl der treffendste, weil er die festsitzende Urangst des Menschen vor der eigenen Vergänglichkeit widerspiegelt. Nichts anderes leitet das Monster in der Edda auch tatsächlich ein. Die Schlange beißt sich selbst in den Schwanz und die Zeit holt sich im Final Showdown von Ragnarök selbst ein. Wo ein Anfang, da auch ein Ende...doch dazu später mehr.
In der Edda von Snorri wird die Bestie Miðgarðsormr genannt. Während in diesem Namen das Suffix "ormr" so viel wie Schlange bedeutet, kann ein weiterer angeführter Name Naðr eher als Drachengestalt verstanden werden.

Die riesige Schlange gilt in ihrer Doppelbödigkeit zum einen als Wächter über Midgard, der jeden eliminiert, der keine Aufenthaltsgenehmigung in Midgard inne hat und zum anderen als Weltenverschlinger und als Anfang vom Ende...Ganz schön symbolträchtig, nicht wahr? Sie gilt als also gleichzeitig als Wächter der Wikinger und deren Welt, wie auch als Vernichter der selbigen. Jörmungand wird als Schutzsymbol für Männer betrachtet. Als berühmt berüchtigtes Seefahrervolk gibt es in Anbetracht der teilweise mönströsen Naturerscheinungen auf den Weiten der Ozeane wohl kein besseres Symbol, als einen riesigen Schlangen-Drachen-Hybrid, der die Wellen zu meterhohen Türmen aufstapeln lassen kann und von dessen Gnaden die Seemänner abhängig sind.
Ein skladisches Gedicht mit dem Titel Ragnarsdrápa" beschreibt die Schlange als Fischgrenze aller Herrenländer. Während es in anderen Metaphern der skandinavischen Sprachen als weltliche Halskette oder als starres Weltenband betitelt wird. Ich denke das Bild wird deutlich.

Loki & Jormungand - Villain DNA
Wie du bereits weißt, ist die Midgardschlange eines der Kinder Lokis und damit Teil der tödlichen Triade. Die Midgardschlange ist die perfekte Metapher für die gespaltene Zunge, mit der Loki seine Ziele eiskalt und rigoros verfolgt. Wie das Lügenkonstrukt Lokis, so wächst auch Jörmungandr ins Unermessliche. Mit Intrigen verhält es sich ganz ähnlich...Eine Lüge folgt der nächsten und das komplexe System funktioniert nur so lange, wie die vorhergehende Lüge der nächsten anhaften kann. Das ist aber nur ein Bruchteil der Erkenntnis, die man aus der mythologischen Sicht ins unsere Zeit holen kann. Loki wird zuweilen etwas androgyn dargestellt, die Schlange unterstreicht diesen uralten Konflikt der Geschlechterrollen, indem sie die Polarität in sich vereint. Ein nahezu perfektes Symbol für die innere Zerrissenheit der weiblichen und männlichen Aspekte in jedem von uns.

„Dann wird der Ozean über das Land fegen, weil die Schlange von Midgard, ergriffen von ihrer ‚Riesenwut‘ , das Ufer erreichen wird. [...] Die Schlange von Midgard wird so viel Gift ausblasen, dass sie es über die ganze Luft und das Meer sprühen wird. Es wird absolut erschreckend sein und wird neben dem Wolf vorrücken. "

Die Aufgaben Thors
Auch in der Rivalität zwischen Thor, der hier eindeutig für unerbitterliche Kraft und Maskulinität steht, spiegelt sich dieser Konflikt ungeschönt wider. Es stehen sich eigentlich keine Widersacher gegenüber, sondern nur zwei Teile des selben Wesens. An dieser Stelle sei gesagt, dass wir keine geschlechterspezifischen Vorurteile hegen und zur Aufklärung unsere inneren Konfliktes beitragen wollen.
Wenn wir von Rivalität sprechen, meinen wir in diesem Fall eher blanken Hass zwischen dem Donnergott und der Schlange. Aber wie kommt diese enorme Abneigung zu Stande?
Jörmungandr und Thor trafen sich laut Mythologie genau dreimal. Laut Kapitel 46 der Gylfaginning ins Snorris Edda besuchten Thor mit Gefährten bei Útgarða-Loki dem Riesen und Herren der Burg Utgard in der Welt Jotunheimer. Um den Gott und seine Gefährten zu demütigen, fordert der Riese Thor zu einem Kräftemessen, mit vermeintlich leichten Aufgaben heraus:
Das Heben der Katze
Das ist der erste Streich, denn der Riese verkleidet die Midgardschlange mit einem Zauber in eine gigantische Katze und fordert den starken Gott dazu auf, die Katze anzuheben. Thor in seiner Eitelkeit gekränkt, macht sich unvermittelt ans Werk und kann die Katze nicht komplett vom Boden anheben. Er schafft es gerade so weit, dass die vier Pfoten sich leicht vom Boden lösen. Später findet sich ein Vermerk, dass Útgarða-Loki die Täuschung aufgedeckt hat und die Leistung Thors als beeindruckende Tat betitelt hat. Weitere Aufgaben waren das Trinken eines gefüllten Horns und der Kampf mit einem alten Kindermädchen.

Das Opfer virtueller Realitäten
Der Riese, nicht minder beeindruckt, dass Thor das enorme Gewicht der Midgardschlange zumindest ansatzweise anheben konnte, entschließt sich seinen Zauber zu enthüllen und dem Gott sein Scheitern nicht unter die Nase zu reiben. Der Riese offenbarte Thor das Tricksen mit Illusionen. Das Trinkhorn war mit dem Ozean verbunden und somit unmöglich zu leeren und das alte Kindermädchen war das Alter selbst. Wie du dir sicher denken kannst ist gerade der Kampf gegen die Zeit aussichtslos. Selbst für einen Gott von Thors Format. Diese Offenbarung bekräftigte Thor nur in seinem Entschluss, die Midgardschlange zu besiegen. Man kann diese tiefe Anfeindung damit begründen, dass beide Seiten die jeweils andere Seite der eigenen Unzulänglichkeiten offen voreinander ausbreiten. Thor der mächtige Donnergott, Sohn Odins, Blitzewerfer, Bezwinger der Eisriesen und die nordische Männlichkeit in Persona und die Midgardschlange, die tief im Verborgenen schlummert. Gewaltig, weltumspannend und für die Schlacht um Ragnarök entscheidend. Sie symbolisiert den verborgenen weiblichen Aspekt im Unterbewusstsein der Welt. In einer Welt in der das Weibliche Jahrhunderte lang unterdrückt, verteufelt und in die Tiefen des Bewusstseins-Ozeans verdammt wurde, muss das ungeheuerliche wachsen und sich vermutlich auch irgendwann selbst in den Schwanz beißen. Der Schmerz dürfte dementsprechend wachrüttelnd sein.

Das zweite Wiedersehen - Fischen mit Thor
Die Schlange von Midgard und Thor sollten sich laut mehreren historischen Gedichten, ein zweites Mal begegnen. Thor, in der Gestalt eines jungen Mannes, beschloss mit dem Riesen Hymir zusammen nach der Schlange zu Angeln. Mit einem Ochsenkopf als Köder bewaffnet, fuhren die beiden also auf das offene Meer und die Schlange biss an und zog den Gott mit ihrer unbändigen Kraft fast in den Ozean. Aus purer Angst kappte der Riese das Seil bevor der Gott den Kampf gewinnen konnte. Wutentbrannt ließ Thor den Riesen über Board gehen. Diese Legende facht das Feuer der beiden Feinde nur weiter an. Der Hammerschlag des Mjölnir, den die Schlange im Gefecht abbekommen hatte, entfachte nun auch tiefe Gefühle der Abneigung in der Schlange.
Was für eine Symbolkraft! Der Stärkere, als Symbol für das männliche Geschlecht, angelt nach Legitimation seiner Vorherrschaft und will die Fehde mit Gewalt beenden und der Andere, als Symbol der unterdrückten Weiblichkeit, will den Donnergott in die Tiefe reißen und sich befreien. Der Midgardschlange werden unter anderem Meeresströmung, Flut, Ebbe, aber auch Überflutungen und Katastrophen zugeschreiben. Außerdem werden ihr gravitative Fähigkeiten und Einfluss auf die Erdrotation zugesprochen. Sie fungiert in der nordischen Welt als Schutzwall für das Menschengeschlecht. Wenn man so will als der Schoß der Welt. Wieder sehen wir die Doppelbödigkeit zwischen Geist und Materie. Wenn die Existenz der Menschenwelt also von dem Wohlbefinden der zerstörerischen aber auch lebensschenkenden Midgardschlange abhängt, welches Interesse hat Thor daran diese zu vernichten?
Die Antwort ist wie immer denkbar einfach. Wie in allen Kulturen geht es um Selbstregulation und Gleichgewicht. Selbst nach dem verheerenden Tag von Ragnarök ist das Gleichgewicht nach dem Kampf um Tod und Leben der beiden Kontrahenten gewährleistet. Thor tötet die Midgardschlange und wird anschließend von der aus dem Leichnam austretenden Giftwolke selbst getötet. Ein deutliches Bild! Unterdrückte Weiblichkeit führt zu toxischer Männlichkeit. Der Tag der Götterdämmerung verdient einen eigenen Artikel und soll deswegen hier nur angerissen werden.

Jut, aber was hat das nu mit unserer aktuellen Situation zu tun?
Gerade im aktuellen Zeitgeschehen lohnt sich wieder einmal der Blick auf tiefsitzende Ängste. Wo finden wir diese am schnellsten? In der archaischen Urangst unserer Ahnen. Für die zerstörerische und leben-schenkende Kraft des Meeres, war es also die Midgardschlange, die das Ruder aus den Untiefen der Weltmeere umschlängelte und so die Geschicke eines Seefahrervolkes steuerte. Schutz des Menschengeschlechts und zugleich ein Monstrum unvorstellbaren Ausmaßes. Auch in der griechischen Mythologie hat das Schlangensymbol die Wandlung von der weiblichen Weisheit hin zum männlichen Phallusaspekt der Unterdrückung erlebt. Im Laufe der Patriarchalisierung kann man das an einem konkreten Beispiel Ding fest machen. Aus dem Symbol für weibliche Weisheit und Fruchtbarkeitsaspekten, wurde die Schlange einfach um den Äskulapstab gewickelt und so in ihr männliches Pendant verkehrt. Ein Thema, dass wir bis heute aufarbeiten und das gerade in den letzten Dekaden an Wichtigkeit beinahe nicht zu übertreffen war. Ganz zu schweigen von der biblischen Erzählung der verlogenen Schlange, die natürlich nur die Frau verführen konnte. Ich denke du erkennst das Muster. Die Emanzipation der Frau und die Wiederbelebung der Weiblichkeit als Schöpfungsakt explodiert förmlich in der uns umgebenden medialen Befreiung. Die nordische Mythologie zeichnet in meinen Augen ein noch klareres Bild dieses Konflikts und dessen Transzendierung. Jörmungandr steht für die unterdrückte Wut des vermeintlich schwachen Geschlechts. Es ist eine heilige Wut, die über die letzten Jahrhunderte immer weiter wuchs und wuchs, bis sie beinahe den ganzen Globus umspannte und sich selbst in den Schwanz gebissen hat. Eine Frage der Zeit? Unbedingt! Eine Frage des Prinzips? Natürlich! Das Prinzip der Polarität schreit förmlich nach Berichtigung der Gleichung. Thors Hammerschlag auf das verstaubte Haupt des alten Männerbildes. In der Gesellschaftsstruktur der Wikinger gab es nachweislich höher gestellte Frauen und die Gleichberechtigung war in weiten Teilen weiter fortgeschritten, als sie es heute ist. Deswegen fordern wir auch hier ein erneutes BACK TO BASIC!
Denn hier liegt der Lindwurm tatsächlich begraben. Der moderne Mann weiß um die Notwendigkeit der eigenen Emanzipation der eigenen weiblichen Anteile. Wie auch schon beim inneren Wolf, dreht sich alles um die eigenen Schattenanteile und deren Aufarbeitung. Das gleiche gilt natürlich auch für alle tapferen Schildmaiden da draußen. Lebt eure Weiblichkeit und entdeckt euren männlichen Anteil. Wir erleben aktuell einen enormen Rückschritt in Sachen Befreiung dieser inneren Anteile. Alte weiße Männer schreien lauthals auf und gefährden den Fortschritt der gesamten Menschheit.
Wir politisieren nicht, wollen aber doch zum Nachdenken anregen, denn manchmal hilft der Blick in die eigenen Ahnenreihen.
Also bei Odins Bart, lebt auch eure innere Freya wieder!
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