Die Transformation von Hel zur Frau Holle

Hel

„Ein rein verstandesmäßiges Weltbild ganz ohne Mystik ist ein Unding.“

Erwin Schrödinger

Mythen & Learnings

Um das „Trio Infernale“ zu komplettieren, darf ich euch heute die Schwester von Fenrir und Jörmundgandr vorstellen. Ich möchte euch aufzeigen, dass sie nicht nur rein körperlich aus der Reihe tanzt, sondern auch in ihrer Funktion als Totengöttin. Ihr erfahrt meine Sicht auf eine Frau, auf eine Göttin, welche auch in unserer modernen Zeit noch als Frau Holle allgegenwärtig und in aller Gedanken ist. Doch wie kam es von der Totengöttin zur Sagen- und Märchengestalt Frau Holle? Wieso sollten wir hier genau hinhören und lernen? Schnappt euch euer Horn füllt es mit Starkstrøm, schnallt euch an und lasst euch von mir nach Helheim entführen. Ausnahmsweise mit Rückflugticket.

Hel ist, wie wir nun schon wissen, die Tochter von Loki und Angrboda und die Schwester des Fenriswolfs und der Midgardschlange. Ihre Gestalt ist menschlich und dennoch ist sie kein Ase, sondern zählt zu den Riesen. In einem anderen Artikel werden wir noch erfahren, warum dieses feine und nicht ganz so kleine Detail wichtig ist. In Hels Fall ist Blut ganz sicher dicker als Wasser und ihr Erscheinungsbild täuscht und betrügt den Beobachter. Auch in der Edda hat man offensichtlich schon mit dem Gedanken gespielt, dass nichts so ist, wie es zu sein scheint.


Apropos Erscheinungsbild – Hels Optik ist besonders erwähnenswert, wird sie doch einmal mittig von oben nach unten geteilt als schwarz und weiß beschrieben. Oder nach Bedarf auch mal als jung und alt, tot und lebendig. Wenn man so möchte, Schrödingers Gedankenexperiment in den Kinderschuhen einer nordischen Göttin. Shakespeares „Sein oder Nichtsein“ in einer ursprünglicheren Form. Auch die grundlegendsten Gegensätze in Zeit und Raum und der menschlichen Natur spiegeln sich in ihr wider. Gut und Böse, hell und dunkel, die Eins und die Null. All das findet Einzug in das Wesen von Hel und versinnbildlicht recht deutlich den Zwiespalt ihrer Rolle.

Entgegen allen christlichen Einflüssen dürfen wir uns die Herrscherin des nach ihr benannten „Helheims“ (der Name „hel“ kann mit „verborgen“ übersetzt werden) nicht als weiblichen Satan vorstellen. Diese Rolle steht, zumindest zu Teilen, eher ihrem Vater zu. Sie ist somit nicht das verkörperte Böse, wie wir es aus der Bibel kennen. Sie ist nicht das von oben beglaubigte Mahnmal, das mit der Angst der Menschen spielt und sie ist auch kein Ablassbrief, der den Menschen empfiehlt, sich vor der eigenen dunklen Seite weg zu ducken, um unbescholten und in Watte gepackt in den Himmel aufzufahren. Sie ist ein weiterer Beweis dafür, dass unser Kulturkreis im Laufe seiner Glaubenshistorie dem Ursprung entsagt und ihn gegen einen fragwürdigen Moralkompass ausgetauscht hat, nur um sich nicht mit sich selbst auseinandersetzen zu müssen. Es sei an dieser Stelle gesagt, dass hier keine Religion verurteilt werden, sondern ein Teil der frühchristlichen Indoktrination aufgedeckt und das Machtinstrument Glaube in Teilen demaskiert werden soll. Ich denke nicht, dass der Klingelbeutel im Sinne Jesu erfunden wurde. Doch von vorne!


Die Sagenwelt

Als sie, wie ihre Geschwister als grausame Kreatur, die Schrecken hervorbringen würde, von Odin aus Asgard verbannt wurde, zog es die Riesin in den Norden bzw. an die Wurzeln des Weltenbaums unterhalb von Midgard. Dort errichtete sie die neunte Welt „Helheim“, die Totenwelt, ein kaltes Schneereich. Ein Reich, welches im Gegensatz zur Hölle nicht als Folterkammer und Raum der ewigen Verdammnis dient. Helheim wird nur in den christlich verwässerten Darstellungen als Hölle bezeichnet. Ein weiteres Beispiel der obskuren Realitätsverweigerung unserer Vorfahren und der Versuch, ein weiteres Mal Wein zu predigen und bei Bedarf einen Schluck Hölle auszuschenken. Aber die Bezeichnung „Hölle“ wird Hels Reich nicht gerecht, denn es ist viel mehr als das. Es ist das Auffangbecken aller Verstorbenen. Unabhängig vom Rang und Namen gehen hier erst einmal alle Toten ein. Die nicht monochrome Göttin nimmt einen wichtigen Platz ein und teilt alle Toten gerecht auf. Sie ist, wenn man so will, die Justitia der Toten. Gerecht und unvoreingenommen. Die Ertrunkenen gehören der Meeresgöttin Rán. Alle Krieger finden ihren ehrenhaften Platz in Walhalla an Odins Tafel, speisen, trinken den feinsten Met und feiern bis zum Tag der Götterdämmerung (übrigens der wohl beste Platz, um in die Ewigkeit einzugehen😉) Über den Rest, Strohtoten genannt, verfügt Hel. Wo sollten sonst all die an Altersschwäche Verstorbenen oder durch einen Unfall Getöteten landen? Nach Helheim kommt man nur über den Jenseitsfluss Gjöll.


Begibt man sich auf seine letzte Reise, wartet am anderen Ufer des Gjöll die goldene Brücke Gjallarbru. Hier müssen die Toten an zwei Wächtern vorbei, unter anderem an Hels geliebten (Höllen-)Hund Garm.

Hel - Nordische Mythologie
Michelle Tolo, ​​2018

Indoktrination

Dieses Bild kann man parallel zu Bifrost und Heimdall betrachten und als das verstehen, als was es gemeint war. Die christliche Hölle hat hiermit nun wirklich nichts zu tun. In Helheim angekommen, werden die Toten wie beschrieben aufgeteilt. All jenen welche die Weiterreise versagt wird, werden von Hel persönlich beurteilt und unbestechlich gerecht sortiert. Die Seelen, die nichts Böses auf sich geladen haben, werden einen warmen Platz voller Freude vorfinden. Taugenichtse und ähnliche Vagabunden kommen in eine kalte Halle, in der schlammige Flüsse gefüllt mit scharfen Klingen auf sie warten. Und die ganz miesen Typen werden ans Ende Yggdrasils geführt und vom Drachen Nidhöggr gepeinigt. Der findige Leser wird an dieser Stelle nun doch gewisse Parallelen ziehen und sich vielleicht fragen, wo denn der Unterschied zwischen christlicher Pein und nordischer Pein liegt.

Hexenverbrennung
Aus dem ​​Stern

Die Antwort ist einfach! In der christlichen Hölle wohnte, laut Märchenbuch, ein Scharfrichter und Henker, ein Masochist mit dem Hang zur Selbstüberschätzung. Im nordischen Helheim lebt eine gerechte Richterin. Strafe ja, aber nicht als Schreckensinstrument, das bereits zu Lebzeiten in aller Munde ist. Die Nordmänner und Frauen waren dahingehend unbestechlich und wussten, dass sie sich nicht über freikaufen, sondern nur über ihre Taten den Unterschied machen konnten. Natürlich waren die Wikinger ein Volk, das auf Plünderungsfahrten vermutlich nicht immer reinen Herzens gehandelt hat. Und dennoch verändert der Glaube an das Jenseits auch die Lebensweise massiv. Man könnte von unterschiedlichen Erziehungsmethoden sprechen. Während die Kirche in ihrer frühen Form autoritäre Drohgebärden als Züchtigungsmittel anwendete, gab der nordische Glaube den Menschen die freie Wahl an die Hand. Die freie Wahl, sich seiner Rolle im Gefüge bewusst zu werden und Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen. Das ist ein himmelweiter Unterschied. Der Wikinger war nur sich selbst, seiner Sippe und den Göttern gegenüber Rechenschaft schuldig. 


Hier an diesem Ort erfüllt Hel ihre Aufgabe pflichtbewusst, bis Ragnarök anbricht. Dann wird sie an der Seite ihres Vaters das Heer der Toten auf das legendäre Schlachtfeld führen, um sich dort mit ihren Geschwistern zu vereinen. Auch Ragnarök wird in meinen Augen in großen Teilen falsch verstanden und verdient einen ausführlichen Artikel.

Die gezähmte Märchenversion

Als gezähmte Märchenfigur hat die Herrin der nordischen Unterwelt allgemeine Berühmtheit erlangt, welche sich noch bis in unsere moderne Zeit hält. Schon allein die sprachliche Herkunft schlägt wortwörtliche Brücken: Holle, wie Holdra oder Huldra stammen von Hold und Hölle. Und im Nordischen war die Hölle ebenjene Hel. Springen wir kurz von den germanischen Sprachwurzeln zu den angelsächsischen Zungen, aus denen das heutige Englisch hervorging, so finden wir dort ,,hell“ als Übersetzung der Hölle. Die Gebrüder Jacob und Wilhelm Grimm arbeiteten hart an der Transformation von der Göttin der nordischen Unterwelt hin zur guten Fee, die weiterhin zwischen Gut und Böse separiert. Die zwei jungen Mädchen fallen durch einen Brunnen (na, wenn das kein Symbol für den Unterweltfluss Gjöll ist), werden durch verschiedene Aufgaben an ihrer Persönlichkeit getestet und für Nächstenliebe und Pflichtbewusstsein belohnt. Hingegen hagelt es Pech für das faule, unsensible und törichte Mädchen. Auch die Nordmänner und Nordfrauen hatten natürlich eine gewisse Angst bei den Göttern in Ungnade zu fallen. Und doch gibt es einen frappierenden Unterschied. Denn während die „moderne“ Form der Frau Holle sich ähnlichen Erziehungsdoktrinen bedient wie das frühe Christentum, zumindest symbolisch, schaffen es die nordischen Götter ein Gefühl von natürlicher Ehrfurcht und Demut in den Menschen auszulösen.

Frau Holle
Wikipedia​​

Eine weitere Parallele finden wir im bettaufschüttelnden Schnee. Denn nicht nur, dass Helheim im kalten, verschneiten Norden liegt, sondern das Totenreich wird in der nordischen Mythologie als kalter Ort beschrieben. Erst bei den Christen geht es heiß her und die Angst falsch zu handeln und nicht gut genug zu sein, wird in die Köpfe der Menschen gebrannt. Ich erwähne es an dieser Stelle noch einmal, das hier soll kein Kreuzzug gegen die christliche Glaubensgemeinschaft sein, sondern vielmehr über die Vergangenheit aufklären und zu bedenken geben, dass uns das Heidentum gewaltvoll ausgetrieben werden sollte. Wie oft brannte eine Naturheilkundige auf dem Scheiterhaufen, weil sie angeblich im Bunde mit dem Teufel agierte? Frau Holle zementiert diesen langsamen Shift hin zur Glaubenshörigkeit und zur Frömmigkeit als Zeitenwende. Denn nicht die Gebrüder Grimm waren die Erfinder, sondern die nordische Mythologie.


Hel Heute

Reeeeeeeload...Entschuldigung...kurzer Aussetzer

Ich glaube es ist an der Zeit das Horn nachzufüllen und sich bequem zurückzulehnen und gebannt den kommenden Worten zu folgen. Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen – Whoops… falsches Märchen, aber die Analogie gefällt mir dennoch. Hel sortiert anhand der Taten der ins Jenseits Reisenden. War es ein ehrenhaftes und in Stolz gelebtes Leben oder eines geprägt von Bosheit, Heimtücke und Verrat? Es soll die Lebenden vorab ermahnen, mit sich und den anderen in Wohlwollen zu agieren. Die Wikingerkultur baut sehr stark auf dieses Gemeinschaftsgefühl auf und die Sippe ist Ort der Heimat. Die Sippe ist Ort der Geborgenheit und bietet einen Explorationsraum für das kollektive Potenzial. Dieses Gefühl der übergeordneten Bedeutung der Heimat und Familie ist Grundpfeiler für den Glauben, der sich sehr stark auf Eigenverantwortung bezieht. Eine Sippe ist nur so stark, wie ihr schwächstes Glied und deswegen werden alle stark gemacht. Ein Leben in Ehre und Ruhm bedeutet weit mehr als zu Brandschatzen und zu Plündern. Es bedeutet mehr als in andere Herrenländer einzufallen und sich an dem Reichtum anderer zu bedienen. Man darf niemals die Symbolik hinter Hel vergessen. Die Polarität allen Seins. Der doppelte Boden auf dem wir uns alle bewegen. Die Sippe bedeutet Zusammenhalt auf allen Ebenen. Dieser Zusammenhalt ist nur dann möglich, wenn der Einzelne frei von Sorge und Angst sein volles Potential im Gefüge erfüllen kann. Hel ist symbolträchtig für diesen inneren Reifeprozess. Zweifelsohne kann man erkennen, dass einige Glaubensgemeinschaften mehr zwischen Menschen separieren als andere und das in weiten Teilen auch noch in unserer heutigen Zeit.


Strom in der Hütte!


Unser lieblich süßer Met ist etwas für die feinsten Wikinger- und Schildmaid-Gaumen jenseits von Asgard. Der süße Wein aus dem besten Wald- und Blütenhonig schmeichelt nicht nur diesen feinen Zungen, sondern bringt auch Strom in die Hütte!

Die Entwicklung zeigt aber erneut eine Zeitenwende am Horizont. Das Wir-Gefühl soll wieder in den Vordergrund gestellt werden und der Einzelne in der Gruppe als das angenommen werden, was er ist. Ein wertvoller Teil einer Gemeinschaft. Gemeinschaft ist der Grundgedanke einer jeden Religion und sollte eben auch als solche gelebt werden. Hel symbolisiert somit nicht nur die innere, sondern auch die äußere Zerrissenheit unserer Gesellschaft. Unser Weg nach Walhalla kann in der heutigen globalen Sippe nicht mehr darin liegen, dass wir mit dem Gewehr in der Hand und dem kalten Krieg 2.0 ein Brudervolk überfallen. Unsere Tapferkeit müssen wir anders beweisen! Wir müssen füreinander einstehen, für die Schwachen und Hilflosen da sein. Natürlich stehen damals wie heute unsere Soldaten schützend vor der Sippe und werden für Tapferkeit und Ehre im Kampf mit dem Leben oder Walhalla belohnt. Aber auch das Aufstehen gegen soziale und moralische Ungerechtigkeit wird zur Pflicht in einer ungerechten und unmoralischen Welt. Die alten Werte reloaded! Darum soll es gehen. Dieser Krieg tobt auf vielen Ebenen. Auf der moralischen sowie auf der spirituellen. Wir sehnen uns nach Freiheit. Freiheit erfordert aber immer radikale Verantwortung. Nicht auszudenken, in welcher Gesellschaft wir leben könnten, wenn jeder bereit dazu wäre, für sein Leben die volle Verantwortung zu übernehmen.

Fazit


Besinnen wir uns auf Hel, auf den Kompass unserer Seele, so dürfen wir ihr an unserem eigenen jüngsten Tag in die Augen schauen und sie wird uns milde zulächeln. Eventuell wird sie sehnsüchtig unsere Wange streicheln, während sie uns, voller Wehmut, den Weg zu den Walküren weist, welche uns nach Walhalla bringen werden. Denn solch einen tapferen Recken wie die #ValhallaArmy hätte sie gerne für ihr eigenes Heer gehabt.


Ein kleiner Zukunftsblick


Es ist in der Ragnarök nicht explizit erwähnt, dass Hel sterben wird. Denn sonst wird jeder tote Ase oder Riese erwähnt: Odin, Thor, Loki, Fenrir und viele mehr. Von Hel heißt es nur, dass sie auf das Schlachtfeld zieht, nicht, dass sie es mit ihrem göttlichen Blut tränkt. Deswegen bin ich überzeugt davon, dass dieses wunderbare und vielseitige Wesen die Götterdämmerung überleben wird. Und dass aus gutem Grund! Da das menschliche Wesen, meiner bescheidenen Meinung nach,  noch nicht mit dem Paradies umgehen kann, welches ihn tagtäglich umgibt, wird auch bei der Neuerschaffung nach Ragnarök die Gerechtigkeit auf Erden gebraucht. Doch das, meine lieben Leser, ist eine andere Geschichte …  




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